Mein erstes Mal: Snapchat
Wir leben in einer spannenden, schnellen Zeit, in der unser Leben konsequent von der fortschreitenden Digitalisierung jedes Mal aufs Neue überrumpelt wird. Sei es im Beruf oder in der Freizeit. Neue Devices und Apps tauchen gefühlt stündlich auf und bieten oftmals ein disruptives Substitut zu alltäglichen "Herausforderungen" wie Kommunikation, Partnersuche, Transport oder auch Ablenkung an.
Manchmal sind die Apps und Plattformen aber gar nicht disruptiv. Sie haben auch keinen erkennbaren Mehrwert. Dennoch schießen Nutzung und Popularität dermaßen in Sphären jenseits von Gut und Böse, dass einem beim Zuschauen schon mal die Hose platzt.
Wie dem auch sei. Jetzt wo auch der deutsche Markt nach dem großen Instagram-Hype Snapchat feiert, ist es wohl höchste Zeit sich mit der Materie zu befassen.
Ähnlich wie die amerikanische App Yo, habe ich Snapchat zunächst in der "Schau ich mir irgendwann mal an" Schublade abgelegt. Wieder so ein Start-up Produkt, das mit schnellem Rise, zeitnaher Monetarisierung (durch Daten oder Ads) und anschließendem Verkauf an einen amerikanischen Medienriesen für Wirbel sorgt, dachte ich. Time to face the truth.
Nach einer kurzen Fragerunde im Team stellt sich heraus, dass zwar wirklich jeder auf gängigen Portalen wie Twitter, Facebook, Instagram und Pinterest vertreten ist - Snapchat für die (deutliche) Mehrheit jedoch absolutes Neuland ist. Egal, mutig wie ich bin, die App geladen und ab geht's. Schnell ist klar, worum sich das Ganze eigentlich dreht. Nämlich um einen selbst (aktive Nutzung vorausgesetzt). In Zeiten von Selfie, Duckface und dem neukreierten Beruf des Digital-Influencers auch nicht sonderlich verwunderlich. Ist Snapchat also als Video-/Photo-Messaging App nur eine weitere Bühne für Selbstdarstellung und Inszenierung? Oder einfach nur eine erfolgreiche Reaktion auf den aktuellen Content-Wandel von Text + Bild zu Video?
Snapchat erlaubt es per Tap & Hold Funktion auf dem Screen kurze Videos (oder Fotos) aufzunehmen. Ganz intuitiv, schnell und hintereinander. Auf diese Weise kann man seinen Tagesverlauf in nur wenigen Schritten mit einzelnen bzw. mehreren selektierten Usern privat oder aber direkt mit allen Followern teilen. Wahlweise kann man sich auch eines der vielen Face-Recognition Filter ins Gesicht klatschen. (Mein persönliches Highlight, wie sich später zeigen wird.)
Klingt logisch, aber auch irgendwie nach Instagram. Fast, denn die sogenannte "Story" ist maximal nur 24 Stunden verfügbar und erlischt anschließend automatisch. Und genau das ist der Clou. Denn allein dadurch verliert das bis ins kleinste Detail inszenierte und Kinfolk-taugliche Arrangement von Kaffee auf altem Holztisch nebst exotischer Topfpflanze und schwedischem Designerschal an Bedeutung.
Snapchat ist der kleine rebellische Punk-Bruder der unsicheren, Hornbrille-tragenden Architektur-studierenden-Schwester. Ungezähmter, naiver und irgendwie ehrlicher. Oder der ehrliche, oftmals aber auch zu realistische Kumpel, der dir bei zu viel Träumerei einfach mal die flache Hand ins Gesicht klatscht und auf den Boden der Tatsachen zurück holt. Also quasi endlich eine Plattform, die Post-Production Waffen, wie Weichzeichner und Stempel, nicht zulässt. Bare-hands in your face! Das führt übrigens dazu, dass sich Nutzer gleicher oder ähnlicher sozialer Schichten eher gegenseitig anschauen. Manus manum lavat. Snaps von Stars und Sternchen sind im Vergleich zu Instagram gar nicht so beliebt, wie aktuelle Statistiken zeigen. Scheinbar zu weit weg und unantastbar wirkt der gelebte Lifestyle.
Als wissenschaftlicher Passiv-Konsument füge ich zu Beginn das "Who is Who" des digitalen Snapchat Klüngels meiner Kontaktliste hinzu und ziehe mir die Stories jeden Abend rein. 7 Tage lang. So der Plan. Wie auch bei Instagram lassen sich hauptsächlich zwei Nutzergruppen feststellen. Hobby-Nutzer und (halbwegs kommerzielle) Blogger (- naja, und Celebrities). Also grob jene, die einfach alltägliche Erlebnisse in der Schule, im Job oder auf Parties teilen, und jene, die ihren greifbaren digitalen Lifestyle, samt aller gesponserten Eventausflüge und kostenlos bereitgestellter Produkte gekonnt als native-ads mit in die Videos einfließen lassen - dennoch aber irgendwo als Normalsterbliche durchgehen.
Zusätzlich gibt's einen Stamm von aktuell 17 Unternehmen, unter anderem VICE, National Geographic und Buzzfeed, der Stories in Form von Artikeln (mit Videos oder Fotos) für die Nutzer bereitstellt. E-book-mäßig kann man dann per Swipe and Scroll die jeweiligen Inhalte erkunden. Zu bestimmten Events (NBA-Spiele, NFL ProBowl, Präsidentschaftskampagnen, Shark-Week, etc.) kommt noch die Live-Funktion hinzu, die Nutzern Snapchat als Real-Time-Channel erkunden lässt.
Mit einem weiblichen Anteil von 70% beschränken sich die Themen entsprechend des stereotypischen Rasters. Shopping, Selfies, Starbucks. Nicht ganz meins, auch wenn ich nun weiß, dass Starbucks-Filialen als postmoderner Hotspot für junge Mädels gelten. Getreu dem Motto: Schlimmer geht immer, beobachte ich eines Abends zufällig zwei Mädels, die sich im Restaurant gegenüber sitzen und gleichzeitig über ihr Essen snappen. Was auch sonst? "Ich esse gerade einen Caesar's Salad. Mmmh, und ihr so?" Mmmh, genau. Wahrscheinlich vegan und ohne Hähnchen. Ich komme mir vor wie in der Hölle minderjähriger narzisstischer Profilneurotiker. Einer geistigen Einbahnstraße ohne Wendemöglichkeit. Vielleicht versteckt sich hinter meiner Fassade auch nur ein alt-konservativer Nörgler, der mit dem Blow-Out bedeutungsloser Alltagssituationen einfach nichts anfangen kann. (Es ist ein Caesar's Salad...?!)
In den nächsten Tagen werde ich leider nicht überrascht. Stattdessen mache ich mir langsam um den Interessenhorizont mancher Menschen und jener, die es noch werden, sorgen. Je mehr Stories ich mir anschaue, desto sicherer bin ich mir, dass Konsum und Materialismus nicht nur zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse dienen, sondern eher in die Kategorie der sozialen Erwünschtheit fällt. Während High5-Gina* nahezu täglich aus höherpreisigen Lokalen snappt, begibt sich NovaLamaLove* alle paar Tage zum Friseur oder zum Wimpernverlängerungs-Treatment. Hair on fleek und so. Und mittendrin meine kleine Cousine, die das Smartphone scheinbar zum Spiegel umdeklariert hat um ihren Vorbildern nachzueifern. Wow.
Nach einer Woche konsequenter "Snapchat & Chill" Abende ist mir einiges klar geworden. Die App ist nicht ohne Grund fast an mir vorbeigezischt. Denn trotz der unheimlichen Summe von 100 Millionen täglich aktiven Nutzern und 6 Milliarden Views am Tag - ist die App eher bei jüngeren Generationen populär. Vielleicht, weil bei jüngeren Menschen das Mitteilungsbedürfnis um ein Vielfaches höher ist. Vielleicht auch, weil das Verhalten und der Umgang mit sozialen Medien von Millenials (Digital-Natives) ganz anders ist, als das Verhalten jener, die Einwahlmodem und WinRar für Relikte aus Zeiten von Napoleon und Robespierre halten (Young Digitals). Aus welchen Gründen auch immer - es besteht eine gewissen Lücke, die die "reifere" Generation Facebook von der jungen Generation Snapchat trennt.
Um noch die Brücke in Richtung Corporate Communications zu schlagen: Durch die Masse an neuen Social Messaging Apps, die jeden Tag durch Zufall (oder auch nicht) in unsere Feeds gespült werden, kann man ganz schnell den Überblick verlieren. Und das möglicherweise zu Lasten des eigenen Business.
In meinen Augen stellt Snapchat, als Erweiterung der Kommunikationskanäle, eine Option des interaktiven Storytellings dar, von der auch die User Experience profitieren könnte. In Zeiten stets steigenden Onlinekonsums und rückläufiger Retail-Sales gilt es dem Konsumenten Mehrwert und Erlebnisse zu bieten. Offline wie auch online. Sei es durch Account-Takeovers, Insights oder exklusiver Contents - mit Hilfe dynamischer Inhalte und kreativer Stories könnte zumindest online genau dort angeknüpft werden. Unternehmen wie McDonald's, Taco Bell, aber auch Calvin Klein und Audi haben bereits Snapchat als weiteren Kommunikationskanal für sich entdeckt und erfolgreiche Kampagnen absolviert.
Hierzulande läuft's leider relativ schleppend. Dabei könnte ich mir beispielsweise bei Lifestyle-Brands durchaus mehr Aktivität / Kampagnen vorstellen - nein, sogar wünschen. So als Kontrast zum aktuellen Einheitsbreit und vor allem, weil zur Zeit so gut wie gar kein Wettbewerb auf der Plattform herrscht. Das Zauberwort heißt - wie so oft - machen. Nicht alles bis ins letzte Detail tot kalkulieren, sondern den Stier an den Hörnern packen und los reiten. Vielleicht würde auch ich dann Snapchat als valide Alternative zu den bisherigen Plattformen der Produktkommunikation nutzen - sofern noch etwas Zeit zwischen Selfie und Follow-Me-Around bleibt.
* Usernamen verfremdet